Unser ist das Meer – Kapitel 13

Der Rauch in dem Grassodenhaus war so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte und doch warf der alte Ingibjörg eine weitere handvoll Rauchkraut ins Feuer. Den beiden jungen Thorwalern, die neben ihm am Feuer saßen, liefen Tränen die Wangen herab, weil ihnen der Rauch so sehr in den Augen brannte. Sie saßen nun schon eine Ewigkeit bewegungslos dort und betrachteten den Rauch und das Feuer. Gelegentlich schnäuzte sich einer der beiden die laufende Nase, lauschte dabei jedoch weiter gespannt den Worten des Alten. Mit langsamen Handbewegungen versetzte er den Rauch in Bewegung und deutete den beiden jungen Männern genau zu betrachten welche Formen er annahm. Mit zusammengekniffenen Augen betrachteten sie den Rauch, versuchten zu sehen was der Alte sah und versuchten zu deuten, was dies darstellen sollte.

Sie hegten schon lange keine Furcht mehr vor den Fähigkeiten des Alten. Thorwaler waren ein sehr abergläubisches Volk und jegliche Magie, war sie noch so gering, betrachteten sie mit Argwohn und Angst. Es gab nur wenige Magier im Volk der Thorwaler und auch hellsichtige oder Menschen mit dem dritten Auge wurden häufig ausgestoßen und vertrieben. Der Alte hatte selbst diese Erfahrung gemacht und gab sein Wissen nun an die beiden jungen Männer weiter. Beorn, groß, selbst für einen Thorwaler, hatte schon früh bemerkt, dass er anders war. Mürrisch, schweigsam und berechnend, sprach er wenig mit den anderen und allein seine Familie gab ihm Halt. Es war ihm immer leicht gefallen Träume zu deuten, Zeichen und Dinge zu sehen, die an anderen unbemerkt vorbei gingen und wenn etwas Schlechtes bevorstand, schien er es zu wissen. Es fügte sich für ihn zusammen, diese Zeichen, die nur er zu sehen schien und wenn er die Bauern vor einem Sturm warnte, der der Ernte schaden würde oder die Skipsmider auf einen bald brechenenden Mast hinwies, betrachtete man ihn mit Argwohn. Schon früh hatte Beorn gelernt, diese Warnungen zu unterlassen, doch die Thorwaler in seinem Dorf wussten es bereits. Die Gerüchte über den jungen Mann mit den stechenden grünen Augen machten die Runde und bald brach Beorn auf, um zu lernen, wie er seine Fähigkeiten schulen konnte.

Als Kind hatte Ragin Stimmen gehört, die im Traum zu ihm sprachen. Seine Mutter war verwirrt, dass ihr Sohn so häufig einfach am Feuer saß und hineinstarrte, kaum reagierte wenn man ihn ansprach. Genauso betrachtete Ragin häufig die Wolken oder den Flug der Vögel und seine Mutter bekam es mit der Angst zu tun. Ein Skalde auf Reisen beruhigte sie, erzählte ihr von den thorwalschen Goden, weisen Männern, die Dinge sahen, Träume deuteten, Runen warfen. Er riet ihr, ihren Sohn einfach zu lassen, war er doch etwas besonderes. Die Dinge die er tat waren nicht gefährlich, doch er würde damit rechnen müssen, dass viele aus dem Dorf ihn meiden würden. So beschränkte der junge Thorwaler sich darauf, seiner Familie zu helfen, ihnen Ratschläge zu geben und auf seine wachsenden Fähigkeiten zu vertrauen. Rauschzustände, ob durch Met oder Rauchkraut, vermied er. Sie verstärkten zu sehr die Dinge, die er sah, verwirrten ihn, doch die Kräuterfrau des Dorfes riet ihm in die Ausbildung zu gehen. Wie ein Skipsmider oder Läknir brauchte auch er einen Meister, der ihm beibrachte seine Talente zu verbessern. So traf Ragin auf Beorn, der ebenfalls diesem Rat gefolgt war und einen alten Goden getroffen hatte, der sich der beiden Thorwaler annahm. Dieser alte Freund Ingibjörgs kämpfte nun jedoch an Swafnirs Seite und so hatte der alte Ingibjörg sich bereit erklärt die beiden jungen Männer weiter auszubilden.

„Wir gehen raus“, begann Ingibjörg und erhob sich langsam. Auf seinen Stock gestützt, schritt er nach draußen und füllte zwei Hörner mit klarem, kalten Wasser, die er den jungen Männern reichte. Beorn und Ragin taumelten, als sie in die Sonne traten und beiden war schwindelig und übel. Das Wasser machte es etwas besser und die frische Luft war eine Wohltat, doch sie wussten dass sie noch nicht fertig waren. Der Alte ließ sich im Gras nieder und öffnete einen Beutel an seinem Gürtel. Er griff hinein, zog eine handvoll Runen heraus und warf sie vor sich in den Sand. „Was siehst du Ragin?“, fragte er knapp und betrachtete den jungen Mann. In Ragins Kopf drehte sich alles und es fiel ihm schwer sich auf die Runen zu konzentrieren. Es gab so viel was er beachten musste, doch irgendwie fiel ihm nichts von dem ein, was sein alter Meister ihn gelehrt hatte. Und trotzdem waren seine Sinne geschärft, er konnte die Runjas spüren, die alles beeinflussten. „Die Swafnirrune liegt sehr nah an der des Wolfs“, begann er und betrachtete die beschnitzten Runen genauer. „Die Wolfsrune steht hier für etwas schlechtes“, flüsterte er und schloss die Augen, streckte seine Finger aus und versuchte zu fühlen, was es war. Die Bedrohung war nah und alt. Der Alte hatte ihnen von dem Wolf erzählt, der an diesem Berg hauste. Er war einer der Gründe warum sie hier waren. Vorsichtig berührte er die rote Rune des wütenden Swafnir. „Zorn“, flüsterte Ragin mehr zu sich selbst, als zu Beorn und dem Alten. „Roter Zorn, Blut und Gold.“ Er sah Bilder vor sich, zornige Gesichter, Äxte die geschwungen wurden, klimpernde Beutel voller Münzen. Menschen schrien, andere riefen. Die kalte Hand des Alten, die sich auf seine Schulter legte, ließ Ragin hochschrecken und er blickte in die gutmütigen Augen des Alten. „Ich könnte jetzt etwas zu essen vertragen, meint ihr nicht?“, fragte Ingibjörg fröhlich, erhob sich und hinkte zur Feuerstelle herüber über der ein brodelnder Topf mit Lauchsuppe hing. „Ich denke wir sollten draußen essen. Die frische Luft wird uns gut tun.“

Beorn blickte Ragin grinsend an. Er hatte seine Sache gut gemacht, sollte das Gesehene für sich selbst deuten, auch wenn ihm dies die eine oder andere schlaflose Nacht bringen würde. Der Alte war zufrieden mit ihm und er wusste, genau wie die beiden jungen Männer, dass Großes bevorstand.

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